Gelungenes Wagnis
Musik und Kirche |
Bernd Alois Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“ in Stuttgart
Bernd Alois Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“ in Stuttgart
Anlässlich des 50. Todestages Bernd Alois Zimmermanns (1918–1970) wagte sich der Stuttgarter Kirchenkreiskantor Jörg-Hannes Hahn an Zimmermanns selten aufgeführtes und großbesetztes Requiem für einen jungen Dichter (1967–1969), das dieser selbst ein „musikalisch-pluralistisches plurilinguistisches Lingual“ nannte. „Darf’s ein bisschen weniger sein“, denkt man zunächst. Doch der Umgang mit Sprache ist durchaus ambivalent: eingespielte Texte,} vom Band und rezitiert, gesungene und gebrüllte Texte und klingende Poesiegehen Hand in Hand.
Nach einer informativen Werkeinführung durch Andreas Dorfner wurde das Werk in der Cannstatter Lutherkirche erstmals seit 30 Jahren in Stuttgart und zum ersten Mal überhaupt in einer Kirche aufgeführt. Die Ausführenden waren hochkarätig gewählt: Yuko Kakuta (Sopran), Uwe Schenker-Primus (Bariton), die beiden Sprecher Rainer Wolf und Felix Heller, das SWR-Experimentalstudio, der Konzertchor Darmstadt (Wolfgang Seeliger), das Ensem- ble Vocapella Limburg (Tristan Meister), der Bachchor Stuttgart und die Stuttgarter Phil- harmoniker unter der Gesamtleitung von Jörg-Hannes Hahn. Hinzu kamen noch eine Organistin und eine Jazz-Band samt Klavier sowie diverse Spezialinstrumente wie Man- doline oder Akkordeon.
Die drei Chöre, die von vorne und von zwei Emporen aus sangen, waren bestens präpariert und meisterten ihre sehr anspruchsvollen Aufgaben, die in großen Teilen aus clusterhaften Akkorden bestanden, bravourös. Die Stuttgarter Philharmoniker in großer Besetzung agierten ebenfalls souverän und äußerst präzise, was auch dem exzellenten Dirigat des künstlerischen Leiters zu verdanken ist.
Es existiert wohl kaum ein musikalisches Werk, das mit einer solchen Fülle an Orchesterinstrumenten so verschwenderisch umgeht wie dieses. Ein Großteil des Orchesters und der Chöre sitzt während der unentwegt fortlaufenden Tonbandeinspielungen zu weiten Teilen nur herum – zum bloßen Zuschauen degradiert (eine Anspielung auf das Zu- bzw. Wegschauen bei Menschenrechtsverletzungen?) – oder hat überhaupt nur wenige Takte im ganzen Werk zu spielen – und dies bei einer Aufführungsdauer von nur etwa 64 Minuten. Die vielen – teils live rezitierten, teils per Tonband eingespielten – Texte in acht Sprachen werden häufig simultan gelesen, so dass die Zuhörer sich zunächst einhören müssen und am Textheft kleben, um nicht den Faden zu verlieren. Zimmermanns Werk irritiert, schockiert und verlangt dem Publikum durch die andauernde Beschallung durch Tonbänder einiges ab. An ein entspanntes Sich-Berieseln-Lassen ist nicht zu denken. Texte von Augustinus, James Joyce oder Johannes XXIII. werden Einspielungen von Goebbels-Reden, Musikzitaten (z. B. „Hey Jude“ von den Beatles, Wagners Tristan oder Messiaens L’Ascension) oder Massendemonstrationen gegenübergestellt. Gut und Böse treten gemeinsam auf, die Grenzen scheinen zu verwischen. Und auch der Text der lateinischen Totenmesse wird in Ausschnitten und veränderter Rei- henfolge von den Chören dargestellt.
Zimmermanns Musik hinterlässt Hoff- nungslosigkeit und Ratlosigkeit; tief depressive Gedichte wechseln sich mit humorvollen ab. Die zentralen Texte des Werkes scheint Konrad Bayer beizusteuern: „frage: worauf hoffen? es gibt nichts was zu erreichen wäre außer dem tod“ oder – fast humoristisch kurz vor Ende: „wie jeder weiß, wie jeder wußte, wie alle wußten, wie alle wissen, wissen das alle?“ Ein Kampf gegen das Vergessen, Verleugnen und Nicht-Wissen-Wollen. Ein hoffnungsvoller und leiser Abschluss in Form eines „Dona eis requiem“? Fehlanzeige! Zimmermann lässt die Chöre die Sehnsucht nach Frieden in Form eines „Dona nobis pacem“ herausbrüllen: con tutta forza. In dieser Welt scheint keine Hoffnung mehr zu sein – auch nicht für Zimmermann selbst, der sich – wie drei seiner im Requiem zitierten jungen Dichter – acht Monate nach der Uraufführung das Leben nahm. Zimmermanns Freundeskreis ging davon aus, dass der Komponist dieses Requiem für sich selbst geschrieben hat. Er blieb sich also sich treu: „es gibt nichts was zu erreichen wäre außer dem tod.“
Jens Wollenschläger