Hochgradig packend


Musik und Kirche | Dietholf Zerweck

Frank Martins „Golgatha“ in Stuttgart

Während in der Zeit vor Ostern alljährlich Johann Sebastian Bachs Passionen und andere barocke Oratorien aufgeführt werden, gibt es nur selten Gelegenheit, bedeutende Werke des 20. Jahrhunderts dieses Genres im Konzert zu erleben. In der Cannstatter Lutherkirche war es nun Frank Martins Passionsoratorium Golgatha, das in einer ungeheuer eindrucksvollen Aufführung mit dem Bachchor Stuttgart und den Stuttgarter Philharmonikern unter der Leitung von Jörg-Hannes Hahn die Zuhörer berührte und begeisterte.

Frank Martin, in einer calvinistischen Pfarrersfamilie in Genf aufgewachsen, wo er mit elf Jahren zum ersten Mal Bachs Matthäus-Passion hörte, kam während des Ersten Weltkriegs und danach mit der Musik Debussys und Ravels, aber auch mit Arnold Schönbergs Zwölftonmusik in Berührung. Neben einem umfangreichen Œuvre von Vokal-, Kammer- und Orchestermusik schuf er am Ende des Kriegs zwei Oratorien: In terra pax (Friede auf Erden) und Golgatha, das 1949 uraufgeführt wurde. Rembrandts Skizze „Die drei Kreuze“, worauf weißes Licht in die düstere Kreuzigungsszene fällt, war eine wichtige Inspiration für seine Komposition: „Ich bemühte mich, das ganze Licht auf die Erscheinung Christi zu konzentrieren und jede andere Person im Dunkeln zu lassen.“ Was freilich nicht bedeutete, den Chor, das sinfonisch besetzte und um Klavier und Orgel erweiterte Orchester sowie die Vokalsolisten nicht sehr klangmächtig und farbig differenziert einzusetzen. Schon der Eingangschor mit seinem neunmalig zwischen gellendem Schrei und demütiger Bitte artikulierten „Père!“ weist auf eine Besonderheit dieses Oratoriums. Neben der Kompilation der vier Passionsevangelien komponiert Martin Texte aus den Confessiones und Meditationes des Heiligen Augustinus: Gottvater und Sohn, Menschwerdung und Kreuzestod, Sündenlast und Erlösung werden in expressiver Dichte und geballten Clustern dargestellt.

Dann spannt sich der Bogen der Passion in neun dramatischen Bildern vom „Palmfest“, Jesu „Rede im Tempel“ und dem „Heiligen Abendmahl“, mit einer eingefügten „Méditation“, zur Gefangennahme im Garten von Gethsemane, zu den Szenen vor den Hohepriestern und Pilatus, bis zum „Kalvarienberg“. Doch am Ende steht „La résurrection – die Auferstehung“ mit dem Paulus-Zitat: „O Mort! Óu est ton aiguillon? O Sépulcre, óu est ta victoire! – O Tod, wo ist dein Stachel? O Hölle, wo ist dein Sieg?“ In chromatisch ab- und aufsteigenden Sekundintervallen wird das von Chor und Solisten in einem ekstatischen Finale gefeiert, mitten im Orchestergebraus auch stimmlich eine Herausforderung. Die besteht der 70-köpfigeBachchor intonationssicher und ausdrucksstark wie alle Partien von Golgatha: mal als Erzähler, als emotionaler Zeuge des Geschehens oder in den hochdramatischen Turbachören.

Auch die Solisten wechseln in die Erzählerrolle, und einprägsam gestalten Natalie Karl mit licht strahlendem volumenreichen Sopran, Stine Marie Fischer mit glutvollem Alt, Alexander Kaimbacher mit kernigem Tenor und Florian Spiess mit scharfem Bass ihre Solopartien. Dynamisch und kontrastvoll – öfters mit charakteristischen Soli wie dem des Englischhorns in der „Méditation“ oder den Flöten in der Glücksvision zu „Le discours au temple“ – agieren die Philharmoniker, und ähnlich wie in Bachs Matthäus-Passion sind die Jesus-Worte von einem warmen Streicherklang umhüllt. Der kroatische Bariton Krešimir Dujmic sang diese zentrale Rolle mit lyrisch empfindsamem Timbre. Jörg-Hannes Hahn ist mit dieser in der französischen Originalsprache gesungenen Golgatha-Aufführung eine hochgradig packende Interpretation gelungen.

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